Mit dem roten «7ni-Tram» erreiche ich den Bundesplatz, dann geht es zu Fuss weiter. Vorbei an Marktständen und Menschengruppen. So gelange ich an einem sonnigen Montagnachmittag ins Bundeshaus. Nach der Sicherheitskontrolle stehe ich auch schon in der Eingangshalle: modern, aber einladend. Doch mein Ziel liegt weiter oben: Ich habe einen Platz für die Sommersession reserviert.
Auf dem Weg durch die Galerie kommt man nicht umhin, die Pracht dieses Gebäudes zu bewundern – hohe Decken, Ornamente und gedämpftes Licht. Nur, was mich oben im Nationalratssaal erwartet, passt so gar nicht zu diesem Bild: Ein Gewirr aus Männern und Frauen, in schwarzen, blauen und grauen Anzügen. Während die einen Zeitung lesen, scrollen andere auf Social Media oder spielen eine Runde Online-Jassen. Unter den rund 200 Anwesenden hören vielleicht 20 konzentriert zu.
An diesem Nachmittag gibt es keine angeregte Diskussion und keine packenden Reden, alles wirkt fade und routiniert. Wenn dies sogar bei der Nationalratssitzung so zugeht, ist dann vielleicht die ganze Politik so? Es drängt sich die Frage auf: Steht es wirklich so schlecht um den Diskurs in der Schweizer Politik?
Perspektiven eines Politikers
Ich telefoniere mit Cédric Wermuth, er ist Nationalrat und Co-Präsident der sozialdemokratischen Partei SP. Ich frage ihn, wie wichtig ihm die Qualität des politischen Diskurses ist. «Ich denke, dass Politik zuerst eine inhaltliche Auseinandersetzung ist. Die Sprache ist dabei eines der zentralen Transportmittel», antwortet Wermuth. Die Sprache sei dem Inhalt zwar nachfolgend, sie sei jedoch ein wichtiges Instrument, um die Haltung auszudrücken.

Ich will von Wermuth wissen, ob die Qualität der Schweizer Politik abnehme. «Ich frage mich immer, ob es denn früher viel besser war», antwortet er. Was sich in den vergangenen 15 Jahren sicher geändert habe, sei eine Zuspitzung von Aussagen auf Zitate und Slogans. «Jedoch hat man auch immer eine Gegenentwicklung», so Wermuth. Im heutigen Raum gebe es noch immer viele Möglichkeiten für den Diskurs, sei es in Zeitungen wie der «Republik» oder im «Service public».
Die Kunst der Debatte
Es gibt sie also schon noch, die Debatten und Diskurse in der Politik. Nur, was braucht es, damit Debatten in der Politik gelingen? Um das herauszufinden, mache ich mich auf den Weg ins Gymnasium Kirchenfeld, der Debattierschule des Kantons Bern. Angekommen im 3. Stock, wartet Michael Schär bereits an seinem weissen Schreibtisch, den Laptop aufgeklappt. Schär ist Lehrer für Fremdsprachen und Rhetorikexperte. Was macht für ihn eine gelungene Debatte aus? «Eine gute Debatte ist etwas Strukturiertes, wo man einander zuhört und aufeinander eingeht. Jeder und jede Debattierende ist sich seiner und ihrer Rolle bewusst. Beim Debattieren schont man einander nicht, aber man hält den Rahmen des Respekts ein.»

Doch wie kann man Struktur in ein Streitgespräch, in eine Debatte bringen? Zuhören ist zentral. Wer debattiert, muss gut zuhören. Wenn man debattieren lerne, lerne man auch, eine grosse Menge von unstrukturierten Inputs «on the spot» zu ordnen. Des Weiteren spiele nebst den allseits bekannten Aspekten wie Körperhaltung, Wortschatz usw. das Selbstbewusstsein eine zentrale Rolle.
Auch Rhetorik ist eine wichtige Figur auf dem Schachbrett des Diskurses. Wer sich mit rhetorischen Figuren auskennt, kann Aufmerksamkeit auf sich ziehen und auch auf emotionaler Ebene ansprechen. Man sieht deutlich: Obwohl Sprache nur das Transportmittel des Inhaltes ist, trägt sie trotz allem einen grossen Teil dazu bei, wie der Inhalt verstanden wird.
Reden sind Grundlage
«Yes we can.» Drei Worte, die um die Welt gingen. 2008 hat Barack Obama mit seiner Wahlkampfrede als Präsident der Vereinigten Staaten ein Musterbeispiel für politische Rhetorik geschaffen.
Doch was macht eine Rede aussergewöhnlich? «Präsidenten haben top Redenschreiber», sagt Michael Schär. «Man soll nur nicht glauben, dass Obama seine Reden selber geschrieben hat.»
Natürlich haben gute Redner ein Talent, ein Gespür für Rhetorik und eine Liebe zur Politik. Jedoch gibt es nach Rhetorikexperte Schär auch viele andere Faktoren neben dem Talent und der Hilfe durch Redenschreiber, welche dazu führen, dass bestimmte Reden in unseren Köpfen mietfrei wohnen.
Einerseits hätten diese Redner meist ausreichend Zeit für ihren Vortrag. Wenn sie eine Viertelstunde reden wollen, dann reden sie eine Viertelstunde. Wenn sie eine halbe Stunde reden wollen, reden sie eine halbe Stunde, so Schär. So hätten die Redner Zeit für Kunstbauten und das volle Programm an Stilmitteln.
Andererseits verdanken viele grosse Reden ihre Wirksamkeit der «Gunst der Stunde». Die weltberühmte Kriegserklärungsrede von Winston Churchill ist so ein Beispiel. «Wer kommt schon in die Situation, einem Land den Krieg erklären zu müssen?», fragt Michael Schär. Der Zeitpunkt sei etwas Entscheidendes, da bei einem Ereignis wie einem Weltkrieg die Menschen deutlich gebannter an den Lippen der Redner*innen hingen, als wenn es um ein Gesetz zur Regulierung der Lautstärke in Randbezirken nach 22 Uhr gehe.
Reden wie diese entstehen also unter Bedingungen, die mit dem parlamentarischen Alltag wenig gemeinsam haben. Und doch zeigen sie: Sprache kann etwas auslösen.
In der Schweiz, wo Reden im Nationalrat oft nur wenige Minuten dauern und viele Abgeordnete kaum zuhören, scheint dieses Potenzial verloren gegangen zu sein. Gute Reden sind kein Ersatz für Debatten – aber sie können deren Grundlage sein. Denn wer nicht einmal bereit ist, eine Position klar in Worte zu fassen, wird sie in einer echten Auseinandersetzung kaum überzeugend vertreten.
Debattieren immer noch eine Herzenssache
Obwohl im Parlament und im Nationalrat Reden, und besonders der Diskurs routiniert, oft sogar distanziert wirken, gibt es immer noch viele Politiker*innen und Normalsterbliche, für welche das Ringen mit Worten weitaus mehr als ein Pflichtprogramm ist. Es ist eine Leidenschaft.
Michael Schär teilt diese Ansicht: «Ich war Sprachenstudent, ich bin Sprachlehrer und ich wäre dies nicht geworden, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, dass Worte zu Taten führen.»
Auch für Cédric Wermuth ist die politische Auseinandersetzung herausfordernd, jedoch leidenschaftlich. «Kein Tag ist wie ein anderer. In welchem Job erlebt man schon so unterschiedliche Themen und so unterschiedliche Leute», schildert der SP-Co-Präsident begeistert.
Debattieren kann also auch Herzensangelegenheit sein.

Positionen sind bereits bezogen
Dass die leidenschaftlichen Diskussionen im Parlament dennoch immer rarer werden, hat seinen Grund:
Der eigentliche Entscheidungsprozess findet in der Partei statt. Die Nationalrät*innen setzen sich (wenn über mehrere Themen abgestimmt wird) jeweils mit einem davon auseinander und bei den anderen Themen vertreten sie die Position ihrer Partei. Sie kommen also und stimmen ab, dann gehen sie wieder. Kein grosser Diskurs, kein Raum für Debatten.
Nur an einem Ort wird noch angeregt diskutiert und ausgehandelt: In der Kommission. Hier treffen sich Vertreter*innen aus verschiedenen Parteien, um Gesetzesentwürfe auszuarbeiten und Kompromisse zu finden. Auch findet hier die tiefere Auseinandersetzung mit den Themen und der Diskurs zwischen den Parteien statt, welcher sich bestenfalls als konstruktiv erweist. Jedoch wird hinter verschlossenen Türen debattiert, sind doch die Kommissionen nicht öffentlich zugänglich.
Debatten finden also noch statt – sie sind einfach vom Nationalratssaal ins Kommissionszimmer verlagert worden.
Zustand der Debattenkultur in der Schweiz
Kommen wir zum Fazit: In der Schweiz herrscht immer noch eine lebhafte Debattenkultur. Auf den ersten Blick wirkt die Politik routiniert und trocken, sei es bei Gemeindeversammlungen oder im Nationalrat. Doch dies täuscht. Der Diskurs findet statt, er wurde lediglich verlagert. An Orte, ob öffentlich zugänglich oder nicht, wo im kleinen und vorbereitenden Rahmen noch immer heftig debattiert, gerungen, und nach Kompromissen gesucht wird, sei es in TV-Shows wie der «Arena» oder in den Komissionen.
Oder mit anderen Worten: Manchmal braucht es Krach, um Konsens zu schaffen.